Camino de Portugues, Teil 4 nach Vila Praia de Ancora
Es ist 18:12 Uhr und ich sitze auf der Terrasse der heutigen Herberge und habe mein Abendbrot, welches ich mir heute aus dem nahen gelegenen Supermarkt besorgt habe, bereits hinter mir. Es gab ofenfrisches Brot, geschnittene Fuet, Ziegenkäse, Oliven und Bier. Preiswert, lecker, völlig ausreichend und gut.
Mein Tag startete bereits kurz nach 6 Uhr, meist entsteht in den Zimmern oft ein Gewusel, dem man sich nur schwer entziehen kann und so zwangsläufig mit aufstehen muss. Da ich in den vergangenen Tagen bereits einen großen Teil der Strecke zurückgelegt habe, standen heute nur 19 Kilometer auf der Tagesordnung.
Nach dem Frühstück in der Herberge, welches ich mit Alexandra aus der Ukraine und Gabi aus Köln genossen habe, ging es für mich einige viele Treppen nach unten, um zurück auf den Camino zu gelangen.

Zunächst erlebte ich einen inneren Kampf, ausgefochten von meinem Ehrgeiz, weiterhin große Strecken zu laufen und mir selbst zu beweisen, was ich schaffen kann, auf der anderen Seite stand der Wunsch, dieses Gefühl der Freiheit des Caminos noch möglichst lange genießen zu können und nicht bereits nach 1 Woche in Santiago de Compostella zu stehen - nach etwa 4 Kilometern wurde ich jäh aus diesem Gedankenkarussell gerissen.

Hier erlebte ich eines der ersten verrückten Ereignisse des heutigen Tages. Genau an dem Punkt (direkt neben einer Kirche), an dem sich der offizielle Camino de Costa von dem Camino Literal (dieser verläuft immer nahe dem Strand) trennt, begegnete mir ein alter Mann mit braun gebranntem Gesicht und schlohweißem Haar, welcher mich ansprach und mir in portugiesischer Art und Sprache irgendetwas vermitteln wollte. Ich verstand immer mal die Worte "Mar" und "Official", seine Sätze endeten jedoch mit einem freundlichen Lächeln und einem "Mar". Und so war die heutige Entscheidung getroffen und mein Weg gewählt.

Ich hatte heute zum ersten Mal meine Kopfhörer im Ohr und wählte zielstrebig ein Album an, dass mir für den Weg geeignet schien. Ich muss niemandem erzählen, dass meine von Herzen favorisierte Band Depeche Mode heißt, in den vergangenen Jahren aber die Cover-Band Forced to Mode aus Berlin eine ebenbürtige Alternative darstellt, die nicht nur musikalisch und emotional in derselben Liga spielt, sondern insbesondere der Sänger mit einer ungeahnten Sympathie und eindringlichen Stimme zu überzeugen weiß.
Ich hörte das erste Lied Insight und lief nichtsahnend vor mich hin. Merkwürdigerweise habe ich bisher nie in diesem Maße auf den Text und dessen Inhalt geachtet, wie an diesem heutigen Morgen. Aber als ich in jenem Moment erneut den Ozean erreichte, drangen die folgenden Worte (die ich an dieser Stelle unkommentiert und im Original belassen möchte) in mein Ohr und in meinen Kopf und sorgten für eine deutliche Menge an Tränen, die mir über meine Wangen rollten:
into my life
this is a strange flight
I'm taking
my true will
carries me along
This is a soul dance
embracing me
this is the first chance
to put things right
moving on
guided by the light
And the spirit of love
is rising within me
talking to you now
telling you clearly
the fire still burns
Wisdom of ages
rush over me
heighten my senses
enlighten me
lead me on
eternally
And the spirit of love
is rising within me
talking to you now
telling you clearly
the fire still burns
I'm talking to you now
the fire still burns
whatever you do now (you've got to give love)
the world still turns
Für den Fall, dass jemand den Titel in genau dieser Version einmal selbst hören möchte, sei genau an dieser Stelle ein Link geteilt:
Doch es ging weiter und ich lief immerfort, begleitet von der unablässigen Brandung des Atlantiks auf dem Camino Literal de Costa. Da ich bisher fast ausschließlich Bilder von den Dingen gemacht habe, die mich beeindruckten oder ansprachen, wollte ich gern in Bild von mir vor dem Ozean. Ich bin kein Freund von Selfies und bat eine junge Frau, die, seit einigen Metern unweit von mir lief, ob sie ein Foto von mir machen könnte.
Im selben Augenblick rief ein Mann aus unweiter Ferne: "Stop, stop, give me your handy!" Ein verrückter Portugiese (ca. 60 Jahre alt, der gerade mit seinem Bruder in ähnlichem Alter unterwegs war, wie sich nachher herausstellte) nahm unsere beiden Telefone ab und gab uns Anweisungen und machte jede Menge Bilder und entschied auch Videos aufzunehmen (er konnte beide Telefone ohne Rückfragen bedienen). Und so lernte ich Elisabeth aus Mailand und nur wenige Meter später Laura aus Turin kennen. Wir gingen einige Minuten zusammen und sprachen über meine Liebe zu Italien, Verona (und wie sehr ich die Oper in der Arena liebe), Venedig, Rom und Dolce Vita. Beide Mädels bestätigten mir zu meiner inneren Freude, dass es Italienern nicht möglich sei, ohne Gesten zu sprechen, sie werden förmlich damit geboren.


Wenig später nahm ich mir die Zeit für mein zweites Frühstück, selbe Kombination wie an den Tagen zuvor, aber immer noch mit einer gefühlten Geschmacks-Explosion.
Nach wiederum einigen Kilometern später begegnete ich erneut Annuk aus Würzburg, die mir mir zwei Tage zuvor in derselben Herberge übernachtet hatte. Damals hatten wir uns nicht vorgestellt, was wir diesmal nachholten. Ich erwähne Annuk nur deshalb, weil sie mich nicht nur wegen ihres Alters, sondern vielmehr von ihrer ganzen offenen und freundlichen Art und Erscheinung sofort an meine Nichte erinnerte.

Nach etwa 15 Kilometern bog ich heute nach Afifa ab, in der Hoffnung, in der Kirche einen Stempel zu erhalten, leider war diese geschlossen. Also stieg ich kurzerhand auf einen kleinen Hügel, da dort bereits aus der Entfernung eine Kapelle zu sehen war, aber auch diese fand ich verschlossen. Dafür empfing mich ein Wasserhahn, den ich dankbar öffnete und zu meiner völligen Überraschung eine Schaukel hinter der Kapelle und am Rande des Abhangs zum Ozean stand. Völlig surreal. Ich dachte im ersten Moment an meine Frau, die diese Schaukel genau hier aufgestellt hätte und im zweiten Moment an meine Kinder, die vermutlich wegen dieser ab hier nicht mehr weiter gegangen wären.


Da ich keinen Weg zweimal gehe, verließ ich den Hügel in Richtung des Landesinneren und war so plötzlich unweit des offiziellen Caminos. Also erklomm ich erneut einige Höhenmeter, um wenig später, alle wieder hinab zum meiner heutigen Herberge, dem Guest House Pereira zu steigen.
Streckendetails
Meine Uhr meldet heute 33.900 Schritte und 26 Kilometer. Eigentlich ein entspannter Tag. Leider meldet sich gerade mein Rücken oder genauer gesagt meine Bandscheibe und sendet unangenehme Schmerzen in mein rechtes Bein. Aber ich habe vor einiger Zeit gelesen, dass jeder auf dem Camino auf irgendeine Weise einem Leiden begegnet. Vielleicht ist das eben meine Aufgabe, damit klarzukommen und auf meinen Körper zu hören. Ich bin eben nicht mehr 25 Jahre alt. Also habe ich mir, nicht zuletzt wegen meiner bereits zurück gelegten Strecke, ein eigenes Limit von maximal 25 Kilometer pro Tag gesetzt. Ich bin gespannt.
Erkenntnisse des Tages
Nach dem ich bereits das für mich emotional bewegende Lied des Morgens niedergeschrieben habe, muss ich dazu nicht mehr viele Worte verlieren. Nur so viel, als das der Text genau meine Empfindungen auf diesem Weg so wunderschön, lyrisch und eben treffend widerspiegelt.
Mir kam bereit gestern eine Idee während des Gehens, die sich heute im Laufe des Vormittags erneut manifestierte. Was, wenn man alle angehenden Politiker, also diejenigen, die auf kommunaler oder Bundesebene hauptberuflich agieren wollen, vor dem Amtsantritt zu dem Nachweis eines eigens erbrachten also gelaufenen Caminos verpflichten würde? Natürlich unter der Bedingung, dass sie diesen allein und ohne fremde Hilfe gegangen sind. Ich bin überzeugt, dass uns eine Reihe völlig blödsinniger und menschen-unfreundlicher Entscheidungen erspart bleiben und ganz nebenbei die Menschen vor Ort von den zusätzlichen Einnahmen profitieren würden.
Wie bereits angedeutet, zwingt mich mein Körper, besser und aufmerksamer auf ihn und seine Signale zu hören. Dies wird meine Aufgabe für die kommenden Tage.
