Camino de Francés (Rückwärts) zum Aeroporto
Ich sitze gerade am Flughafen und habe nun mehr als genügend Zeit, um sowohl mein Gepäck abzugeben als auch dann irgendwann gegen 17 Uhr in mein Flugzeug zu steigen. Daher in Ruhe von Anfang an.
Pünktlich kurz nach 6 Uhr erwachte ich und nahm mein Telefon, um mir noch einmal die Route zum Flughafen anzuschauen, die nach Google Maps an sehr großen Straßen entlangführte. Und so kam mir die Idee, als ich meine geliebte Camino Ninja-App nochmals öffnete, dass ich doch einfach den Camino des Francés in entgegengesetzter Richtung, also von Santiago in Richtung San Paio laufen könnte, einem kleinen Ort, der direkt am Ende des Flughafens liegt. Gesagt getan, ging ich nach einer morgendlichen Dusche zum Frühstück und genoss ein paar kleine Croissants, Naturjoghurt mit Honig, Obst und Espresso sowie Orangensaft. Frisch gestärkt machte ich mich um 8 Uhr auf den Weg.
Santiago de Compostela lag heute Morgen vollständig im Nebel, welcher sich wacker, sogar immer dichter werdend, bis etwa 10 Uhr hielt. So machte ich noch zwei oder drei Bilder von der Kathedrale und lief danach den Camino nach der Karte meiner App in der entsprechenden Richtung los. Es lag eine angenehme Ruhe über der Stadt, die gerade erst begann, zum Leben zu erwecken.



Es ist völlig merkwürdig, wenn man plötzlich keine Zeichen mehr sieht, denn die gelben Pfeile des Caminos prangen meist auf Laternenpfählen oder Häuserwänden, welche heute ja immer in meinem Rücken lagen. So nutzte ich am Anfang noch die Karte meiner App, danach orientierte ich mich einfach an den entgegenkommenden Pilgern. Mir begegneten zu Beginn nur sehr wenige Pilger, doch mit jedem Kilometer, den ich heute lief, wurden es mehr und mehr.
Allerdings, und dass muss ich mit einem gewissen Bedauern feststellen, würde ich lediglich einen Bruchteil der mir entgegenkommenden Menschen als Pilger bezeichnen. Inzwischen erkennt man die Menschen, die den Weg als rein sportliche Herausforderung betrachten, an der (aus extremen Neon-Farben bestehenden) Kleidung, immer größere Gruppen mit gleichen T-Shirts (die einen eher an Sportvereine oder Mannschaften erinnern) oder anderen Outfits kamen mir häufig entgegen. Am schlimmsten empfand ich aber die (oftmals) jugendlichen Gruppen, welche meist laut grölend, von aus mobilen Bass-Boxen begleitender Musik, rücksichtslos und den Weg einnehmend, als ob sie diesen persönlich gepachtet hätten in Richtung Santiago liefen - mit dem eigentlichen Sinn einer Pilgerreise hat das aus meiner Sicht rein gar nichts zu tun. Zwischen diesen Gruppen, Pärchen und Einzelgängern drängelten sich dann noch, laut klingelnd, jede Menge Fahrradfahrer, welche stellenweise, denselben Weg nach Santiago nutzen, wie die Reisenden, die zu Fuß unterwegs sind.
Trotz dieser Menschenmassen, welche einer Völkerwanderung gleichkam, hatte der Camino nach dem Verlassen von Santiago dennoch seine Reize, lief ich zunächst noch in dichtem Nebel und auf kleinen Nebenstraßen, entwickelte sich der Weg teilweise wieder zu dem so geliebten Waldweg, dessen Stimmung zu genießen ich heute aber leider nicht mehr im Stande war. Zu oft wurde ich, als einzig entgegenkommender Wanderer, angerempelt oder hatte einmal fast die Fahnenspitze einer spanischen Flagge im Auge, welche ein junges spanisches Mädchen, lauthals singend, aber ohne dabei auf andere Menschen zu achten, um sich schwenkte.



Dennoch begegnete ich auch unheimlich freundlichen Menschen, die meinen Gruß herzlich und lächelnd erwiderten, manche fragten mich sogar nach dem Ziel meines Weges. In Lavacolla traf ich auf ein deutsches Rentnerpaar (die ich sofort auf Grund ihrer Kleidung, als echte Pilger identifizierte), welche 2021 aus ihrer Heimatstadt Bonn gestartet sind und immer jedes Jahr eine Etappe von 600 Kilometern zurückgelegt hatten. Dann kam Corona und nun waren sie endlich auf ihrer Zieletappe unterwegs. Ich freute mich für die Beiden, erklärte Ihnen auf ihre Nachfrage noch kurz die Prozedur mit der Compostela und wünschte Ihnen einen Buen Camino.
Die letzten 3 Kilometer verließ ich den Camino und lief endlich wieder komplett allein zum Flughafen. Obwohl ich entlang einer Straße lief, fühlte ich mich sofort wohler, befreit von den Menschenmassen der vergangenen Stunden.
Nun sitze ich hier beim einem Glass Estrella und einem Sandwich Iberico con Queso und warte darauf, dass der Lufthansa-Schalter öffnet, damit ich endlich meinen Rucksack loswerde. Noch 2 Stunden. Dann soll es ebenso sein.

Streckendetails
Auf direktem Weg hätte ich wohl nur etwa 11 Kilometer benötigt, aber über den - gern in Kauf genommenen Umweg - Camino de Francés waren es vom Hotel bis zum Terminal genau 16 Kilometer, meine Uhr vermeldet 21.500 Schritte. Da kommt in Frankfurt sicher etwas hinzu.
Erkenntnisse des Morgens
Ich glaube, dass ich auf dem gesamten Camino de Portugues, weniger Buen Camino grüßte als an dem heutigen Tag. Ich schätze, das mir auf den gerade einmal 12 Kilometern, bis San Paio, von etwa 8.15 Uhr bis 11.30 Uhr, gut und gerne 2.000 Pilger entgegengekommen sind.
Schade, dass die ursprüngliche Intention einer Pilgerreise von einer Vielzahl an Menschen ungewürdigt, missinterpretiert oder eben ignoriert wird. Tugenden wie Rücksicht und Respekt schienen heute bei einigen Menschen verloren gegangen. Ich kann nur vermuten, dass ein Großteil dieser Menschen eben aus Spanien kommt (die Sprache, die ich heute zu 90 Prozent vernahm) und hier "nur" mal eben die letzten 100 Kilometer läuft, die Distanz, für die es - weist man die entsprechenden Stempel vor - die begehrte Compostela gibt.
Vermutlich muss man mit diesem Effekt leben, vielleicht werden diese Regeln ja in der Zukunft einmal verändert.


